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Unsere Gesellschaft verändert sich gerade enorm

"How will we live together?" | Biennale Architettura Venezia 2021 | Foto Florian Roost-Unsplash

Unser Leben wird immer digitaler. Wir «treffen» uns in den sozialen Medien. Algorithmen steuern unsere Meinungsbildung. Künstliche Intelligenz bestimmt mehr und mehr unseren Alltag. Mit dem demographischen Wandel leben erstmals in der Menschheitsgeschichte vier Generationen gleichzeitig zusammen. Der Klimawandel stellt uns vor immense Herausforderungen.

Dieser vielschichtige Kontext prägt das gesellschaftliche Engagement eines Teils der Bevölkerung, insbesondere junger Menschen. Sie suchen nach Sinn, nach Identität und fordern ökologisch nachhaltiges Verhalten ein. Die Arbeitswelt hat sich infolge der Pandemie urplötzlich verändert und wird sich durch die nötigen Umweltschutzbemühungen und die Digitalisierung und Robotisierung gewisser Berufe in den kommenden Jahren weiter stark verändern.

Wie können wir gesellschaftlich und wie kann die Wirtschaft resilient bleiben oder werden?

Der Wandel ist enorm. Die Pandemie wirkt dabei wie ein Brennglas, akzentuiert die Probleme und beschleunigt deren Entwicklung. An der Schnittstelle dieser Transitionen stellen sich viele Fragen wie: Was unternehmen wir gegen die Übernutzung von Ressourcen? Wie stellen wir Chancengerechtigkeit her? Wie begegnen wir den beobachtbaren Rollenveränderungen?

Der Wandel, den wir als Gesellschaft erleben, erfordert stetig neue Denkansätze und nachhaltigere Verhaltensweisen. So können wir als Gesellschaft und so kann auch die Wirtschaft resilienter werden.

Auf dem Weg zu einer resilienten Gesellschaft

Welche Schlüsse können oder sollten wir aus dieser Zeit der Unbeständigkeit für eine Zeit danach ziehen? Wie gehen wir um mit der für eine Pandemie typischen Ungewissheit, die im Dilemma zwischen wissenschaftlichem Erkenntnis-Aufbau und politischer Entscheidungsfindung entsteht? Wie gehen wir mit den manchmal extremen Reaktionen unserer Gesellschaft um?

Angesichts einer Pandemie mit unbekannter Entwicklung müssen wir der Wissenschaft und unseren Institutionen vertrauen können und akzeptieren, dass sie nicht alles wissen können über etwas, das es erst seit kurzem gibt. Wir müssen ihnen helfen, indem wir als Gesellschaft mitspielen.

Ohne unsere kritische Haltung aufzugeben und Fragen zuzulassen, müssen wir lernen, uns anzupassen – und eine resilientere Gesellschaft werden. Denn über die Pandemie hinaus werden der Klimawandel, die demografische Entwicklung und die Digitalisierung von uns ständige und weitaus grössere Anpassungen verlangen.

"Gesellschaft ist resilient, wenn alle oder zumindest die meisten Menschen die Möglichkeit haben, zu reagieren, um zurückzuschlagen", Markus K. Brunnermeier

Die Fähigkeit, sich positiv zu entwickeln

Der französische Psychiater Boris Cyrulnik von dem das Konzept der Resilienz stammt, fasst es als «die Fähigkeit, trotz Stress oder Unglück, die normalerweise das Risiko eines negativen Ausgangs beinhalten, erfolgreich zu sein, zu leben und sich positiv und sozialverträglich zu entwickeln» zusammen. Mit anderen Worten: Es ist die Fähigkeit, sich von einer Widrigkeit zu erholen. Im Zusammenhang mit einer Pandemie, bei der jedes individuelle Verhalten Auswirkungen auf andere haben kann, erfordert Resilienz mehr als nur individualistisches Denken. Resilienz wird gesellschaftlich relevant. Auf dieser kollektiven Ebene erfordert sie, dass wir gemeinsam lernen, indem wir uns über unsere Ansichten austauschen und unsere Unterschiede akzeptieren.

Der einzige Weg ist daher der gemeinsame. Wir müssen eine Spaltung der Gesellschaft um jeden Preis vermeiden. Stattdessen müssen wir den Weg gemeinsam gehen und uns gemeinsam weiterentwickeln, trotz aller Unterschiede und möglicher Misserfolge. Wenn wir es schaffen, eine resilientere Gesellschaft zu werden, können wir besser mit Schwierigkeiten und unvorhergesehenen Umständen umgehen.

Wir wird die Wirtschaft resilienter? oder: Der Faktor Mensch

In der Arbeitswelt – und auch im Bildungsbereich – bedeuteten die Reisebeschränkungen und Schutzmaßnahmen, dass wir von heute auf morgen auf digital umschalten mussten. Einserseits haben wir uns sehr schnell angepasst und so einen grossen Rückstand im Bereich des digitalen Wandels aufgeholt. Auf der anderen Seite haben wir das Homeoffice endlich als notwendige Entwicklung und Realität akzeptiert. In beiden Themen hat die Gesellschaft grosse Fortschritte gemacht: bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, weniger Fahrzeiten und weniger Emissionen, die mit diesen Fahrten verbunden sind. Das zeigt, dass Krisen auch Katalysatoren für Veränderungen sein können!

Die Digitalisierung und die Folgen der Pandemie – von denen einige Branche stärker betroffen waren als andere – haben die gesamte Arbeitswelt auf den Kopf gestellt und neue ökologische und soziale Anforderungen zutage gefördert.

Kurzfristig: Wie kombinieren wir hybride und flexible Arbeitsmodelle mit der Unternehmenskultur? Welche Arbeitsbedingungen bieten wir jungen Müttern? Mittelfristig: Wie gehen wir mit dem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften und dem beruflichen Übergang bei Berufen mit hohem Substituierbarkeitspotenzial um? Wie binden wir Talente ein? Wie vermeiden wir die Altersdiskriminierung? Wie setzen wir uns für lebenslanges Lernen ein? Wie werten wir Pflege- und Betreuungsarbeit auf? Wie erfüllen wir langfristig die Anforderungen unserer Mitarbeitenden selbst, unserer Kunden und der Öffentlichkeit in Bezug auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit?  All diese Fragen spielen in Unternehmen und Organisationen eine immer größere Rolle.

Mit der Krise müssen Unternehmen agiler werden und dabei ein Gleichgewicht zwischen Effizienz und Resilienz anstreben. Die Resilienz der Wirtschaft erfordert Kreativität und Innovation, aber auch ökologisch und gesellschaftlich nachhaltige Verantwortung. Die Agilität, die die Wirtschaft braucht, um den Übergang zu bewältigen, beruht auf dem «Faktor Mensch».

Wir tragen gemeinsam Verantwortung.

Der Aufbau einer widerstandsfähigen Gesellschaft und Wirtschaft geht uns alle an. Die notwendigen Anpassungen setzen bewusstere Entscheidungen und Verhaltensweisen auf individueller und kollektiver, politischer und wirtschaftlicher Ebene voraus. Denn eine «Gesellschaft ist resilient, wenn alle oder zumindest die meisten Menschen die Möglichkeit haben, zu reagieren, um zurückzuschlagen», schreibt Markus K. Brunnermeier in seinem kürzlich erschienenen Buch ‘The resilient society’ (Princeton University, 2021).

 

Muriel Langenberger

Muriel Langenberger

Muriel Langenberger

Die Gründerin des Thinktanks Swiss Society Lab war bis Ende 2019 Mitglied der Geschäftsleitung der Jacobs Foundation. Vor 2013 war sie als Leiterin des Bereiches Kinder- und Jugendpolitik beim Bund tätig. Bis 2008 arbeitete sie zwölf Jahre lang bei der Stiftung Terre des hommes zuerst im Mittleren Osten, dann in Asien und zuletzt als Leiterin der Programme in der Schweiz. Sie erwarb 1995 einen Master in internationalen Beziehungen des Graduate Institute for International and Development Studies in Genf.

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Kommentare

Kommentar von Werner Schärer

Sehr gute gesellschaftspolitische Analyse mit zentralen Fragestellungen und Herausforderungen! Ergänzend stellt sich für mich die Frage des Erhalts der Arbeitsmarktfähigkeit älterer Menschen und wie Wissen/Erfahrung von Pensionierten in Wert gesetzt werden können.

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